Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht: Praxiserfahrungen an Bremer Schulen

Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht: Praxis und Praxiserfahrungen an Bremer Schulen

Tagungsbandbeitrag zur GDCP-Jahrestagung 2014 in Bremen

Öhsen, R. v. & Schecker, H. (2015). Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht: Praxiserfahrungen an Bremer Schulen. In Heterogenität und Diversität ? Vielfalt der Voraussetzungen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik Jahrestagung in Bremen 2014 (Vol. 35) (S. 585–587).@inproceedings{scheckervonoehsen2015,
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author={Romina von Öhsen and Horst Schecker},
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Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht: Praxiserfahrungen an Bremer Schulen

Inklusion im naturwissenschaftlichen Unterricht? Individuelle Förderung stark heterogener Lerngruppen? Diesen und vielen anderen Herausforderungen müssen sich Lehrerinnen und Lehrer stellen, die nach dem inklusiven Konzept unterrichten. In den letzten Jahren wurde der Inklusion immer mehr Bedeutung zugeschrieben. Auch das Land Bremen hat sich, mit Inkrafttreten des neuen Schulgesetzes im Jahr 2009, dazu verpflichtet, die Inklusion an allgemeinbildenden Institutionen einzuführen. Der inklusive Entwicklungsplan orientiert sich an „der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen vom 13.12.2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen” (Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2010, S. 5). Die Vereinbarung setzt relevante Impulse für einen inklusiven Entwicklungsprozess zur aktiven Teilhabe aller Menschen innerhalb der Gesellschaft.
Die Stadt Bremen hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Entwicklungsziel im Schuljahr 2017/2018 vollständig zu erreichen. Die Umsetzung erfordert, dass alle Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten „Wahrnehmung und Entwicklung“ sowie „Lernen, Sprache, Verhalten“, aber auch das Personal der Förderzentren, Teil der Regelschulen werden (vgl. Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft 2010, S. 29).

Da diverse Schulen bereits begonnen haben, nach dem inklusiven Konzept zu unterrichten, in Deutschland bislang jedoch kaum empirische Studien zur Umsetzung von Inklusion im naturwissenschaftlichen Unterricht vorliegen, erscheint es relevant, bisher gesammelte Praxiserfahrungen zu erkunden (von Öhsen 2014). Vor diesem Hintergrund erklärten sich zehn Lehrerinnen und Lehrer aus sechs Bremer Oberschulen (integrierte Gesamtschulen) mit praktischen Erfahrungen im Bereich des inklusiven Unterrichtens bereit, anonyme Leitfadeninterviews durchzuführen. Die Gespräche sollten einen Einblick in die aktuelle Lage der Schulreform ermöglichen. Fachliche, soziale und gesellschaftliche Aspekte standen im Vordergrund. Den Probanden wurde die Möglichkeit geboten, Ansichten, Einschätzungen aber auch Erfahrungswerte darzulegen.
Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgte anhand der qualitativen Inhaltsanalyse sowie der induktiven Kategorienbildung nach Mayring (2010). Nachdem die Einzelgespräche transkribiert wurden, fand eine Präzisierung der Inhalte statt (Paraphrasierung). Im nächsten Schritt wurden doppelte und unwichtige Inhalte mittels der Generalisierung gestrichen und Verallgemeinerungen reduziert. Die Ergebnisse wurden in Thesenform verdichtet. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse der Analysen vorgestellt.

Inklusion erweitert die Leistungsheterogenität eher graduell als grundsätzlich

Die bereits vorliegende Heterogenität der Lernvoraussetzungen an Bremer Oberschulen, wird aufgrund der Inklusion weiter verstärkt. Die Spannbreite individueller Fähigkeiten und Förderbedarfe von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen ist breit gefächert. Ein guter Unterricht erfordert dementsprechend differenzierte Unterstützungsmaßnahmen, von denen nicht nur die Inklusionskinder profitieren, sondern ebenfalls Regelschülerinnen und Regelschüler, denn erfahrungsgemäß gelangen nicht nur Jugendliche mit Beeinträchtigungen, sondern ebenfalls Heranwachsende ohne Beeinträchtigungen bei naturwissenschaftlichen Sachverhalten kognitiv an ihre Grenzen.

Das Problem ist die Methodik: Wochenplanarbeit und differenzierte Arbeitsblätter lassen sich kaum einsetzen

Im Gegensatz zu anderen Unterrichtsfächern (z. B. Mathematik) ist das Arbeiten mit Wochenplänen oder differenzierten Arbeitsblättern im inklusiven naturwissenschaftlichen Unterricht kaum realisierbar. Besonders im Hinblick auf Experimente wird deutlich, dass sich naturwissenschaftliche Sachverhalte in ihrer Darstellung und in der Entwicklung von Arbeitsaufträgen und Lernaufgaben als weniger skalierbar erweisen. Bereits Versuchsanleitungen können Verständnisschwierigkeiten hervorrufen, die eine direkte individuelle Betreuung erfordern.

Eine Orientierung am Bildungsplan der Regelschule passt nicht zum Inklusionskonzept

Lehrkräfte berichten, dass die Bedürfnisse der Jugendlichen mit Förderbedarf zeitweilig zurückgestellt werden müssen, um die Auflagen des Bildungsplans für Regelschülerinnen und Regelschüler zu erfüllen. Die damit verbundenen bewerteten Leistungsanforderungen führen in vielen Fällen zur Bildung leistungsgleicher Ingroups. Darüber hinaus gibt es für Inklusionskinder keine festgelegten „Standards“, an denen die Lehrkräfte sich fachlich oder didaktisch orientieren könnten. Einerseits stellt dies eine Herausforderung dar; andererseits wird die Gegebenheit aufgrund der daraus resultierenden Freiheiten als Chance wahrgenommen.

Kinder mit Beeinträchtigungen können im naturwissenschaftlichen Unterricht lebenspraktisches Handlungswissen erwerben

Besonders in den Unterrichtsfächern Physik, Biologie und Chemie können praktische Bezüge zur Natur, Umwelt und Technik hergestellt werden. Das lebenspraktische Handlungswissen fördert unter anderem die Selbstständigkeit im Alltag oder auch das Hinterfragen von Sachverhalten.

Handlungsorientierung im naturwissenschaftlichen Unterricht stellt eine besondere Chance für Inklusionskinder dar

Wie bereits die vorherige These verdeutlicht, bietet der naturwissenschaftliche Unterricht viele Möglichkeiten für einen handlungsorientierten Unterricht. Das praktische Arbeiten (Experimente, Gruppenarbeiten) kann trotz starker Leistungsunterschiede alle Schülerinnen und Schüler motivieren. Der Bezug zum Alltag begünstigt den Aussagen der Befragten zufolge das inklusive Lernen. Zusätzlich fördern Gruppenarbeitsphasen, wie beispielsweise die Stationenarbeit, eine Einbeziehung der Inklusionskinder in die Klassengemeinschaft und in den Unterricht.

Kognitive Überforderung

Eine Herausforderung, der sich die Lehrkräfte stellen müssen, liegt beim Übergang vom praktischen Handeln (z. B. Durchführung von Experimenten) hin zur theoretischen Aufarbeitung (Auswertung der Experimente). Aufgrund kognitiver Überforderung resignieren häufig Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf, was zu offensiven Verhaltensauffälligkeiten führen kann. Dennoch wird betont, dass nicht nur Inklusionskinder bei naturwissenschaftlichen Sachverhalten an ihre Grenzen stoßen, sondern ebenfalls einige Regelschüler.

Die soziale Einbindung steht im Vordergrund

Alle Heranwachsenden in das Unterrichtsgeschehen zu integrieren und in den Schulalltag einzubeziehen, erscheint den Probanden als besonders relevant. Wesentlich ist in diesem Fall eine aktive Beteiligung der Inklusionskinder am Fachunterricht. Fachliches Wissen oder auch Verstehen ist jedoch oftmals nachrangig. Die befragten Lehrkräfte bedauern dies, da sie der Auffassung sind, dass sowohl soziales als auch fachliches Lernen erfolgen sollte.

Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht kann gelingen! …

Überraschend war, dass sich alle Interviewpartner für die Inklusion an allgemeinbildenden Schulen ausgesprochen haben. Die Oberschullehrkräfte halten die Umsetzung im naturwissenschaftlichen Unterricht prinzipiell für möglich, besonders im Hinblick auf das praktische und aktive Arbeiten im Unterricht. Trotz bestehender Schwierigkeiten infolge ungenügender Ressourcen werden gelungene Unterrichtsbeispiele angeführt.

… Es fehlen jedoch angemessene Rahmenbedingungen!

Wie bereits erwähnt, hat ein inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht nach Aussage der Lehrkräfte unabdingbare Voraussetzungen, die bislang als unzureichend bewertet werden. Den Befragten mangelt es an einer durchgängigen Doppeltbesetzung mit zusätzlichen Sonderpädagogen oder Fachlehrkräften. Darüber hinaus werden kleinere Lerngruppen bzw., in Bezug auf den naturwissenschaftlichen Unterricht, Halbgruppen gefordert sowie zusätzliche Planungsstunden, die eine angemessene Vorbereitung ermöglichen sollen. Ein weiterer Kritikpunkt befasst sich mit mangelnden Ressourcen, die für einen gelingenden Unterricht erforderlich erscheinen. Differenzierte Arbeitsblätter, überarbeitete Lehrbücher sowie geeignete Experimentiermaterialien werden benötigt. Zusätzlich berichten die Probanden über unbefriedigende Fortbildungen und Vorbereitungsmaßnahmen.

Fazit

Es wurde festgestellt, dass die befragten Personen über weitgehend ähnliche Erfahrungen, Ansichten und Einstellungen berichten, so dass eine Sättigung bald erreicht werden konnte. Lehreraussagen zufolge wird den naturwissenschaftlichen Fächern in Anbetracht der Handlungsorientierung eine besondere Chance zugeschrieben, alle Schülerinnen und Schüler in das Unterrichtsgeschehen einzubeziehen. Jugendlichen wird die Möglichkeit geboten, trotz starker Leistungsunterschiede, aktiv am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen. Darüber hinaus kann ein Lebensweltbezug hinsichtlich der Fächer Biologie, Physik und Chemie hergestellt werden, der zum einen das Interesse der Heranwachsenden wecken kann und zum anderen an bestehende Vorkenntnisse anknüpft, die das Lernen begünstigen.
Auffällig ist, dass die befragten Lehrpersonen die Umsetzung eines inklusiven naturwissenschaftlichen Unterrichts für realisierbar halten. Im Gegenzug wird jedoch angeführt, dass für eine gelungene Durchführung diverse Rahmenbedingungen gegeben sein müssen. Die Aussagen verdeutlichen die bestehende Diskrepanz zwischen potentiellen Möglichkeiten und einer tatsächlichen Verwirklichung inklusiven Unterrichts. Als Hauptproblem werden mangelnde Ressourcen, insbesondere eine fehlende Doppelt-Besetzung durch Sonderpädagogen oder zusätzliche Fachkräfte angeführt, die für eine individuelle Betreuung unerlässlich erscheinen.

Literatur

Die Senatorin für Bildung und Wissenschaft (2010): Entwicklungsplan des Landes Bremen zur schulischen Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an unterstützender Pädagogik und sonderpädagogischer Förderung. Entwicklungsplan Inklusion. Online verfügbar unter http://www.lis.bremen.de/sixcms/media.php/13/Entwicklungsplan%20Inklusion.pdf, zuletzt geprüft am 27.05.2014.

Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. In: Qualitative Inhaltsanalyse.

von Öhsen, R. (2014). Inklusiver naturwissenschaftlicher Unterricht – Praxis und Praxiserfahrungen an Bremer Schulen. Masterarbeit, Universität Bremen, Institut für Didaktik der Naturwissenschaften.